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Der Mensch ist im Grunde gut und trägt alles bereits in sich, um „das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist“ (Kierkegaard)?

Dieser humanistische Ansatz schwingt auch in meinem Herzen mit und Gedanken von z.B. Carl Rogers und Fritz Perls beinhalten viele Aspekte, die ich durch mein eigenes Erleben bestätigen kann. Da ist es doch etwas traurig, wenn diese Überzeugung mit einer naturwissenschaftlich-empirischen Sicht der Persönlichkeitsentwicklung nicht leicht vereinbar ist: Denn wie tragfähig ist diese Haltung, wenn z.B. Gene, epigenetische Faktoren und vorgeburtliche Einflüsse zu einem „schwierigen Temperament“ führen, dass sich bereits sehr früh äußert und sich im Erwachsenenalter kaum verändern lässt?*

Hier also ein paar sicherlich zu kurz gesprungene Überlegungen zu einem großen Thema:

Wenn ich rückhaltlos vom „Guten“ im Menschen überzeugt bin und alle anders lautenden Wahrnehmungen und Erfahrungen entweder ausblende oder uminterpretiere, dann werde ich nicht nur immer wieder von gegenteiligen Erfahrungen frustriert werden, sondern auch „das Schlechte“ im Exil besonders gedeihen lassen. Denn was nicht sein darf hat die Angewohnheit, sich besonders stark und nachhaltig immer wieder in den Vordergrund zu drängen. Und wenn ein:e Klient:in bestimmte (psychische) Fähigkeiten vielleicht wirklich (noch) nicht hat, dann verpasse ich es, ihn/sie im Aufbau dieser Fähigkeiten zu unterstützen oder verstärke das Problem durch gut gemeinte Überforderung.

Wenn ich alles als (bestenfalls) neutral oder ambivalent sehe – der Mensch könnte gut oder schlecht sein, er könnte das Potential bereits in sich haben oder nicht, er könnte kompetent / sympathisch / liebenswert sein oder auch nicht, dann fehlt für mich der positive Nährboden. Denn auf einer intuitiven Ebene merken wir sehr schnell voneinander, mit welcher Haltung wir uns gegenübertreten. Und wenn sich jemand im Coaching weiterentwickeln möchte, kann ein ambivalentes Gegenüber dann für uns als beziehungsorientierte Wesen wirklich der optimale Nährboden sein?

Oder ich kann Menschen mit einer vorbehaltlos positiven Grundeinstellung gegenübertreten, wohlwissend, dass dies manchmal nicht gerechtfertigt ist. Ich kann die Augen offen halten für Indizien, dass meine Grundhaltung diese Mal nicht bestätigt wird, ohne sie deswegen in ihrer Gänze revidieren zu müssen. Ich kann Limitationen in mir selbst und in meinem Gegenüber wohlwollend Willkommen heißen, mit einer Überzeugung, dass sie als Teil des Lebens dazugehören. So hat auch „das Schlechte“ seine Daseinsberechtigung als Teil der natürlichen Dualität des Lebens und „das Gute“ kann durch positive Resonanz gedeihen. Und es macht natürlich immer Sinn, sich selbst auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse zu hinterfragen 😉

Was denkt ihr? Ich freue mich über Austausch!

* Alica Ryba & Gerhard Roth: „Coaching und Beratung in der Praxis: ein neurowissenschaftlich fundiertes Integrationsmodell“ – toller dicker Wälzer, der viele bekannte Coaching Richtungen unter die Lupe nimmt