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Agiler Testballon trotz Sandwich-Position?

Wie der Impuls für eine nachhaltige agile Transformation auch aus dem mittleren Management heraus gelingen kann – Fallstudienbasierte Überlegungen

Es gibt Zeiten, in denen substanzielle Krisen nicht nur ein Risiko, sondern bereits zur Realität geworden sind. Langfristig gewachsene Strukturen zu verändern ist nicht nur für Großkonzerne, sondern auch für Mittelständler ein hartes Stück Arbeit. Nach einem Umsatzeinbruch könnte der Handlungsdruck kaum klarer sein und die Notwendigkeit zur Veränderung ist fast schmerzhaft offensichtlich. Vielleicht gab es sogar schon erste Versuche, die Organisation zu transformieren, aber irgendwie sind sie versandet. Kommt dir das bekannt vor? Warst du in einer ähnlichen Situation und hast dich gefragt, wie du aus deiner Sandwich-Position heraus die Krise in eine Chance verwandeln und eine nachhaltige Veränderung anstoßen kannst?

Im Rahmen unseres Think Camps haben wir genau diese Frage am konkreten Fall eines Mittelständlers im produzierenden Gewerbe bearbeitet. Wir haben einen ersten Impuls erarbeitet, der dem Unternehmen hilft, mit seiner immer komplexer werdenden Umwelt Schritt zu halten. Haben wir das Rad neu erfunden? Sicher nicht. Warum wir trotzdem darüber schreiben? Weil wir in den Austausch mit euch gehen, Gedanken anregen und Mut machen wollen und die Praktiken und Werkzeuge mit euch und für euch entwickeln wollen, um die sich stellenden Herausforderungen zu meistern.

Verpasste Marktchancen als zentrale Herausforderung

In unserem Fall schafft es das Unternehmen nicht, auf sich bietende Marktchancen zu reagieren, obwohl dies mitten in der drohenden Krise bitter nötig wäre. Durch Aufschreiben und Reflektieren dieser Herausforderung (Root Cause Analysis) haben wir die folgenden drei Ursachen abgeleitet:

  1. Zu lange Durchlaufzeiten in der Produktentwicklung ohne die Möglichkeit kleine, Kundennutzen stiftenden Funktionserweiterungen zu liefern.
  2. Eine systematische Identifikation des Kundennutzens ist nicht möglich.
  3. Der Entwicklungsprozess ist nicht auf die Maximierung des Kundennutzens ausgelegt und wird somit der Komplexität des Marktes nicht mehr gerecht.

Um die Ursachen aus dem mittleren Management heraus adressieren zu können, haben wir eine Struktur zur Umsetzung eines Testballons zur agilen Entwicklung von Produkten erarbeitet. Diese Struktur gibt die kritischsten Elemente mit an die Hand, die berücksichtigt werden sollten, wenn der Testballon einen nachhaltigen Impuls zur Veränderung auslösen und nicht zum einmaligen Luftballon-Tier mutieren soll. Diese Struktur ist nicht als allgemeingültige Antwort oder Best Practice gedacht, sondern als Themensammlung, die dabei unterstützt, ein eigenes Experiment zu initiieren und daraus zu lernen.

6 kritische Elemente befähigen das Lösungs-Experiments

Wir stimmen Kotter und Kollegen zu: das Top-Level Management Buy-In und Commitment sind unabdingbar. Auch wenn die Transformation aus der organisatorischen Mitte getrieben wird, sind Lippenbekenntnisse des Top-Managements bei weitem nicht ausreichend. Nur wenn das erweiterte Geschäftsleitungsteam erkennt, dass die Transformation nicht nur formal genehmigt, sondern von ihnen vorgelebt werden muss, kann sie auch erfolgreich sein. Das gilt genauso für den Testballon, weil er der erste Schritt eines strategischen, überlebenskritischen Vorhabens ist.  Nach einer fundierten Stakeholder Analyse ist die Basis hierfür eine klare Kommunikation Richtung Top-Management. Es ist erforderlich, Transparenz über die Ist-Situation zu schaffen, einen ‚Sense of Urgency‘ zu erzeugen und den Nutzen sowohl für das Unternehmen insgesamt als auch für die Geschäftsführung selbst zu übermitteln.

Ein großes Vorhaben braucht Verbündete und treibende Kräfte. Es reicht eine relativ kleine Gruppe die das Wissen, die Kultur und die Macht hat, um die nächste Welle zu überzeugen. Die Basis bilden das gemeinsame Verständnis und der “kulturelle Container” der Beteiligten. Wenn die kritische Masse der Betroffenen vom Sinn der Transformation überzeugt ist und am gleichen Strang zieht, dann entfacht man die notwendige Dynamik, um den Testballon zum Erfolg zu führen.

Ist ein Ballon, der so leicht zerplatzen und in alle Richtungen geweht werden kann die richtige Metapher für einen Piloten? Wir glauben ja, denn er erinnert daran, wie wichtig die richtige Auswahl des Piloten / Use Cases ist. Mit dem falschen Piloten ist der Traum vom transformierten Unternehmen bald zerplatzt. Der Pilot sollte daher möglichst simpel sein, aber auch das Gesamtsystem der Organisation repräsentieren, so dass die Ergebnisse wertvoll genug sind, damit die Organisation die Überzeugung und Sicherheit gewinnt, um die Transformation zu skalieren.

Let’s talk agile. Das Wort agil ist in aller Munde und jeder versteht etwas anderes darunter. Für uns zählen Mindset, Kultur, Organisation und Strukturen genauso dazu wie Resultate, Methoden, Werkzeuge und die technologische Basis. Eine agile Befähigung erreicht man nicht von heute auf morgen, sondern durch kontinuierliches Lernen und Erproben. Eine agile, evolutionäre Transformation bringt immer komplexere Organisationsformen hervor, die es erfordern, dass sich alle Teammitglieder intuitiv darin zurechtfinden und bewegen können. Schon im Piloten ist dafür nicht nur ein gemeinsames Grundverständnis nötig, sondern auch die Etablierung klarer Rollen und das kontinuierliche Erlernen, wie das System funktioniert.

Um die Veränderungen mit Leben zu füllen, muss nicht nur ein initiales Team zusammengestellt, sondern auch Strukturen zur optimalen Weiterentwicklung geschaffen werden. Notwendige Bedingungen sind individuelle Fähigkeiten, organisatorischer Einfluss (mindestens per Unterstützung der Geschäftsführung) und Abdeckung des gesamten Wertstroms im Team. Hinreichend für den Erfolg sind jedoch erst explizite Maßnahmen zur Schaffung und Weiterentwicklung einer gesunden und gelebten Kultur, die eine nachhaltige Transformation ermöglichen.

Zu guter Letzt muss das Vorhaben Testballon kontinuierlich befähigt werden, um sich bestmöglich weiterzuentwickeln. Dazu braucht es nicht nur Budget, sondern auch einen engen Kreis an Vertrauten und Verbündeten für den Antreiber aus der Mitte und ein bewusstes Management der eigenen Rolle, Kapazitäten, sowie möglicher Interessenskonflikte. Eine wirksame Außenkommunikation des Testballons an die nicht direkt Beteiligten sowie eine iterative Ausarbeitung, Erprobung und Verfeinerung des Vorgehens sind ebenfalls elementare Bestandteile einer kontinuierlichen Befähigung und Weiterentwicklung.

Veränderungsformel zeigt Wirksamkeit der kritischen Elemente auf

Aber können wir nun auf Basis dieses Testballons Stillstand oder gar nicht erst richtigem Entfachen der Transformation wirksam entgegentreten? Hilfe beim Hinterfragen kann hier die Veränderungsformel des Entwicklungspsychologen Thomas Binder leisten, die Svenja Hofert kürzlich[1] ebenfalls zu Rate zog: V = f (U x Z x W) > K

V (Ausmaß der Veränderungsmotivation)

U (Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation)

Z (attraktiver Zielzustand)

W (Verstehbarkeit und Praktikabilität des Weges)

K (Kosten der Veränderung: sachlich & persönlich)

Wenn eines der Elemente der Funktion gleich 0 ist, dann ist auch das Ergebnis gleich 0. Aber überprüfen wir nun unsere Überlegungen mit der Veränderungsformel:

Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation: wird adressiert durch klare, zielgerichtete Kommunikation mit dem Top-Management um einen ‚Sense of Urgency‘ zu erzeugen und den Nutzen der Veränderung zu vermitteln.

Attraktiver Zielzustand: wird über einen erfolgreichen Testballon erlebbar gemacht. Über ein konkretes Beispiel können die Beteiligten einen Einblick gewinnen, wie viel sie in kurzer Zeit erreichen können.

Verstehbarkeit und Praktikabilität des Weges: Wenn klar am Testballon aufgezeigt wurde, dass es auch anders geht und wie es gehen kann, dann wird der Zielzustand verständlich und die Praktikabilität wurde direkt an einem ersten Beispiel aufgezeigt.

Sachliche und persönliche Kosten der Veränderung: im ersten Schritt werden sowohl die sachlichen als auch die persönlichen Kosten mit dem Testballon deutlich begrenzt. Bei nur kleinem Scope sind die finanziellen Kosten begrenzt, durch ein gezielt ausgewähltes, motiviertes Team und das proaktive Management der eigenen Ressourcen hat man auch die persönlichen Kosten im Griff. Steigen U, Z und W nach Abschluss des Testballons kann die Veränderungsmotivation positiv bleiben, auch wenn die Kosten durch eine Ausweitung der Transformation steigen.

In Summe kann unser Ansatz also dabei helfen, das Feuer für eine agile Transformation aus der Mitte heraus zu entfachen und weiter zu verbreiten. Die Basis dieses Artikels ist eine umfangreichere Struktur, die wir nun weiter ausarbeiten und mit Leben füllen. Dir ist diese Zusammenfassung nicht genug und du willst mehr wissen und dich mit uns austauschen? Dann setz dich gleich mit uns in Verbindung!

[1] https://www.xing.com/news/insiders/articles/stillstand-bei-veranderungen-2788412?xng_share_origin=web