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VERÄNDERUNG LIEBEN LERNEN #5 – Das wahre Selbst

Was hat es mit dem “wahren” Selbst auf sich? Wie kann ich es finden? Existiert es überhaupt und in wie weit ist die Suche nach dem wahren Selbst hilfreich? Diese Ausgabe meines Newsletters dient u.a. als Ausgangsbasis für meinen nächsten Beitrag zum Leitprozess Akzeptanz der #MetatheoriederVeraenderung.

Außerdem würde ich mich nach dieser 5. Ausgabe sehr über Feedback freuen, mehr dazu im letzten Absatz.

Die Verheißung des wahren Selbst

Der Gedanke des wahren Selbst klingt attraktiv und verlockend. Denn wer sehnt sich nicht nach der einen, unverrückbaren Wahrheit, die nur entdeckt werden muss, nach einem Stück innerer Sicherheit in unserer chaotischen Welt. In diesem wahren Selbst liegt die Verheißung von Erfüllung, Zufriedenheit und Lebenssinn. Auch der Weg ist klar, ich muss mein wahres Selbst suchen, es Schritt für Schritt aus den Mustern der Vergangenheit befreien, die zahlreichen Zwiebelschichten abschälen, damit es dann, strahlend wie ein Diamant, zum Vorschein kommt und mich von nun an begleitet. Ja, es begleitet mich nicht nur, sondern füllt mich aus, endlich nur noch das eine wahre Ich, keine angepassten, verzerrten Versionen mehr.

Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass mir diese Gedanken fremd sind, ich nicht auch immer wieder die Suchbewegung nach meinem vermeintlich wahren Selbst starten würde. Und egal wo ich hinschaue, sei es in die Coaching oder die New Work Szene, Yoga, oder andere Ecken der Selbstfindungs-Bewegung: das Konzept des wahren Selbst ist implizit oder explizit sehr präsent.

Doch was ist das wahre Selbst eigentlich? Ganz elementar ist es ein Modell unserer Psyche. Und wie immer gilt gemäß George Box: alle Modelle sind falsch, aber manche sind nützlich. Doch ist das Modell des wahren Selbst wirklich nützlich, also funktional für die Persönlichkeitsentwicklung? Wo lässt sich das grobe Konzept abtragen und verfeinern, wo verwerfen und wo bestätigen?

Auf dem Prüfstand

Das Modell des wahren Selbst enthält für mich zwei elementare Bestandteile, bzw. Annahmen, die ich hier näher beleuchten möchte:

  • Es gibt etwas Wahres, Pures, Eigenes in uns, etwas das unser ureigenes Wesen darstellt. Etwas, das Bestand hat jenseits aller Faktoren, die uns beeinflussen.
  • Dieser wahre Kern ist eine feststehende, nahezu unveränderliche Komponente, statisch die Zeit überdauernd. Und er ist auffindbar, hat quasi einen Ort, kann entdeckt werden und verloren gehen, wie der Schlüssel, der unauffindbar scheint und sich doch irgendwo in der Wohnung befindet.

In wie weit sind diese Annahmen nun hilfreich? Was implizieren sie, was verhindern sie?

Das Wahre, Pure, Eigene in uns

Bist du Rechtshänder:in oder Linkshänder:in? Wir kommen mit der Präferenz für eine Hand auf die Welt und behalten sie (nachdem zum Glück die Angewöhnung der “guten” rechten Hand schon länger aus der Mode gekommen ist) bis an unser Lebensende. Wir können auch die andere Hand entsprechend trainieren, aber die Präferenz und Anlage wird davon nicht ausgelöscht.

Genauso gibt es gewisse Veranlagungen, die uns durch die Gene mitgegeben worden sind, die aber auch z.B. durch die Schwangerschaft beeinflusst werden können. Auch ein gewisses Temperament ist uns zu eigen und schwer zu verändern (siehe z.B. Alica Ryba / Gerhard Roth “Coaching und Beratung in der Praxis”). Anderes entwickelt sich erst im Laufe unseres Lebens, doch auch hier ist oft die Säuglings- und Kleinkindphase von zentraler Bedeutung.

Die meisten von uns werden auch ein eindeutiges inneres Erleben zu der Aussage “ich fühle mich ganz wie ich selbst” zuordnen können. Meist sind das Situationen, in denen alles stimmig scheint: unsere Wahrnehmung sowie unsere Gedanken und Gefühle, der Ausdruck, den wir dafür wählen und die Resonanz, die wir darauf erhalten. Nun bekommen wir, wenn wir aufwachsen, von unseren Bezugspersonen mehr oder weniger Resonanz auf unterschiedliche Aspekte unseres Wesens. Ist diese Resonanz sehr unpassend, führt dies oftmals später zu Problemen und / oder Coaching bzw. Therapiebedarf. Denn sowohl übermäßige, als auch zu wenig oder fehlende Resonanz auf bestimmte seelische Aspekte wirken sich ungünstig auf die persönliche Entwicklung aus (—> mein Beitrag zu Resonanz). So entsteht dann vielleicht auch das “falsche” Selbst.

Aber welches ist denn nun das richtige wahre Selbst? Das, das mit 20 auf jede Party geht und bis in die Morgenstunden tanzt? Oder das, das mit Mitte 30 auf einem ländlichen italienischen Campingplatz sitzt und die Idylle genießt (viele Grüße aus Pennabili)? Das, welches das 5-Sterne Spa Ressort genießt? Oder das, welches mit dem Mountainbike durch den Himalaya und den Kaukasus radelt?

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Natürlich sind wir vielfältig und verändern uns, denkst du vielleicht jetzt. Und genau darum geht es beim nächsten Punkt.

Das auffindbare, ewige “Ding” Selbst

Der Gedanke von einem die Zeit überdauernden, wahren Selbst hat etwas beruhigendes, gibt Sicherheit. Und doch schränkt er uns ein. Die Welt um uns herum verändert sich ständig, wie ungünstig wäre es da, wenn wir nur ein statisches Selbst hätten, das zwar wahr zu sein scheint, sich aber nicht anpassen kann?

In der Metatheorie der Veränderung verstehen wir das Selbst als Prozess. Aber was genau bedeutet das? In jeder Sekunde trifft unsere Psyche unzählige bewusste und unbewusste Entscheidungen auf Basis der aktuellen Situation. So erschafft sich das Selbst über die Entscheidungen, die es trifft, in jeder Sekunde von Neuem. Damit uns das nicht völlig überlastet, werden viele dieser Entscheidungen immer wieder gleich getroffen, dadurch entsteht Stabilität und Konstanz über die Zeit hinweg. So entstehen auch (teils sehr beharrliche) psychische Muster. Das Selbst ist in diesem Verständnis kein “Ding”, das z.B. gefunden werden kann, sondern ein Prozess. Es selbstet und das uns ureigene Wesen kann verstanden werden als Qualitäten oder Atmosphären, die dieser Selbstprozess vordergründig hat. Der Selbstprozess “janinat” also.

Bei diesem Gedanken kann mein Selbst auch nicht verloren gehen oder gefunden werden, es hat keinen Ort. Es “wird”, entsteht also jederzeit von neuem. Je nachdem wie du dich innerlich organisiert hast, werden ggf. in diesem Prozess nun viele Entscheidungen so getroffen, dass sie etwas dir innewohnendes leugnen. „Ich fühle mich nicht wie ich selbst“ oder „so bin ich eigentlich gar nicht“ wären dann vielleicht Beschreibungen, die du diesem Zustand geben würdest.

Das Selbst als Prozess?

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber für mich war diese Definition zu Beginn durchaus sperrig, an der Grenze des Begreifbaren. Es ist so tief in uns verankert, dass das Selbst ein feststehendes Ding ist, da scheint der komplexe Prozessgedanke erst mal sehr fremd. Mit einem Selbst als Prozess, bei dem sich einige Entscheidungen verstetigt haben, kann ich aber Veränderung ganz anders denken, als mit einem wahren, statischen Ding als Selbst. Und das scheint mir eine wesentlich nützlichere Vorstellung, als die des einen wahren Selbst. Gleichzeitig ist mein Verständnis des Selbst noch im Entstehen, nicht ganz frei von Widersprüchen, verändert sich immer wieder und entwickelt neue Nuancen. Irgendwie beruhigend, dass sich etwas so Elementares immer wieder verändern darf und nicht statisch bleiben muss.

Welche Rolle spielt das wahre Selbst bei dir? Bist du gefühlt noch auf der Suche, oder hast du es schon gefunden? Kanntest du den Prozess Gedanken schon oder ist er dir ganz neu? Kannst du dich selbst als Prozess denken?

Du selbst zu werden, brauche ich dir mit dem Prozess Gedanken nicht mehr zu wünschen, da “wirst” du sowieso in jeder Sekunde. Wie sehr das, was da konstant entsteht, sich für dich passend oder falsch anfühlt, ist aber sicherlich eine Frage, die es sich zu erkunden lohnt. Denn die vielen Entscheidungen sind, einmal ins Bewusstsein geholt, durchaus veränderbar (—> mein Beitrag zu Bewusstsein).

Mehr Input zum Thema

Eine wie ich finde spannende Podcast Folge bei “Rätsel des Unbewussten” beschreibt gut greifbar die Auswirkungen von unpassender Resonanz auf die Selbst-Entwicklung. Das Selbst wird allerdings auch hier implizit dinglich und nicht prozesshaft verstanden.

Ausführungen zum Selbst als Prozess finden sich immer wieder in der gestalttherapeutischen Literatur (z.B. bei Frank Staemmler), hier gibt es kurze Erläuterungen des Metatheorie Portals: zum Psychischen System und zur Selbststeuerung (Psyche)

Eine Bitte: Teile dein Feedback mit mir

Dies ist nun die 5. Ausgabe meines Newsletters. Er hat immer deutlich weniger Ansichten, Reaktionen und Interaktionen als meine sonstigen Beiträge, dafür eine leicht wachsende Anzahl an Abonnenten. Sind die Beiträge zu lang? Lest ihr den Newsletter meistens nur als E-Mail und taucht daher nicht in der Statistik auf? Gibt es etwas anderes, was ihr euch wünschen würdet? Ich freue mich über Feedback in jeder Form!

In diesem Sinne gutes Prozessieren und bis zum nächsten Mal!

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